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Wandel statt Wachstum - Bedarfsgerechte Technikpolitik für periphere Räume!

In Zeiten des demografischen Wandels und "strukturschwacher" Regionen bedarf es alternativer Technik- und Wirtschaftsformen.

von Christian Scherf

Bevölkerungsstatistiken und Wirtschaftprognosen deuten auf eine tief greifende Änderung der Sozialstruktur Deutschlands hin. Die für eine Reproduktion der Gesamtgesellschaft notwendige Geburtenrate wird seit Jahrzehnten unterschritten. Gleichzeitig fördert der medizinisch-technische Fortschritt eine ansteigende Lebenserwartung für diejenigen, die ihn sich leisten können. Die klassische "Alterspyramide", mit vielen Jugendlichen und wenigen Hochbetagten, steht zusehends Kopf. Auf den Schultern der Neugeborenen liegt die Last vorangegangener Generationen, die auf technische und soziale Hilfsleistungen angewiesen sind. Der Generationenvertrag, bei dem junge Verdiener die Renten der Älteren zahlen, kann nicht länger eingelöst werden. Eine zukunftsweisende Zuwanderungspolitik, die auf junge Menschen setzt und einer "Vergreisung" der deutschen Gesellschaft entgegenwirken könnte, ist nicht in Sicht.

Zum demographischen Wandel gesellt sich eine weitere besorgniserregende Entwicklung: eine immer weiter spreizende "Wohlstandsschere" tut sich auf. Der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen "Besserverdienenden" und "Transferleistungsempfängern" schwindet. Damit sinkt für Letztere die Hoffnung auf ein Altern in Würde. Schon zeigen sich auch materiell sichtbare Grenzen zwischen den Einkommensklassen. Erste "Reichenviertel", so genannte "Gated Communities", wie man sie sonst nur aus Schwellenländern kennt, sind auch hierzulande anzutreffen. Schranken und Wächter trennen Arm und Reich - Abgrenzungstechnik wird Alltag.

Diese beiden bedenklichen Entwicklungen - Vergreisung und Verarmung - treffen in bestimmten Regionen Deutschlands besonders dramatisch zusammen: den "strukturschwachen" oder "schrumpfenden" Räumen. Solche Regionen sind oft ländlich geprägt und befinden sich vorwiegend im Osten, aber auch verstärkt im Westen Deutschlands. Das Gebot der Daseinsvorsorge, das gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet gewährleisten soll, hat mit dem Leben vieler Bundesbürger nicht mehr viel gemein. Aus zahlreichen Landstrichen sind die Grundpfeiler des täglichen Lebens fast gänzlich verschwunden. Grundständige Bedienungsgeschäfte sind Discounter-Märkten gewichen. Besonders im Osten Deutschlands sind zudem die industriellen Standbeine nach der Wende von 1989/90 vielfach weggebrochen. Die heimatliche Wirtschaft bringt kaum noch attraktive Arbeitsplätze hervor. Wer Karriere machen möchte zieht weg. Gerade gut ausgebildete junge Menschen - besonders Frauen - kehren der Region ihrer Geburt den Rücken und bauen andernorts ihre Existenz auf. Lange Zeit versuchte der Staat durch ein garantiertes Mindestmaß an infrastrukturellen und ordnungspolitischen Standards dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Öffentliche Nahverkehre, Bundespost, kommunale Straßenreinigungen, Berufsfeuerwehren und mehr sollten auch ländliche Regionen abseits der Wirtschaftskerne lebenswert machen. Doch vor dem Hintergrund leerer Staatskassen und horrender Schuldenberge wird dies so nicht mehr zu leisten sein.

Technikentwicklung vollzieht sich immer weniger nach politischen und immer mehr nach ökonomischen Ordnungskriterien. An Stelle von Gewährleistung und Gemeinwohl tritt Rationalisierung und Rentabilität. Die damit verbundene Ordnungskultur und Ortsstruktur baut maßgeblich auf wirtschaftlichen Auslastungs- bzw. Größenvorteilen auf, den "economies of scale". Ob Bus, Post oder Discounter existiert, hängt von der Anzahl der Fahrgäste, Versender oder Nachfrage ab. Fällt etwas unter die Rentabilitätsgrenzen, etwa weil alte Menschen öfter zuhause bleiben oder arme Menschen weniger kaufen, wird es wegrationalisiert. Im öffentlichen Nahverkehr führt z.B. der Kindermangel zu gravierenden Rückgängen der Fahrgastzahlen, da die Schülerverkehre stark abnehmen. Man geht so weit, ganze Schulstandorte aufzugeben und zusammenzulegen, mit der Folge, dass die wenigen verbleibenden Schülerinnen und Schüler noch weitere Wege zurücklegen müssen. Materiell greifbar ist das Problem auch bei der Nahversorgung mit Alltagswaren sowie der Wasserversorgung. Wenn Discounter für ihre Größenverhältnisse zu wenig Kunden haben, müssen sie kleiner werden. Dies rechnet sich nur in Maßen, denn sie kalkulieren mit Mengenvorteilen und raschem Warenverkauf. Unterdurchschnittlich ausgelastete Filialen schließen also. Es gibt bereits unzählige Dörfer ohne eine einzige Möglichkeit, Waren des täglichen Bedarfs einzukaufen. Denn der sprichwörtliche "Tante-Emma-Laden um die Ecke" konnte gegenüber den Discountern oft nicht bestehen. Ein ähnlicher Strukturverfall durch Nachfrageschwund droht der Wasserversorgung. Wenn Wasserrohre aufgrund mangelnden Verbrauchs zu wenig Frischwasser führen, können sie verstopfen oder verkeimen. Allerorten gilt: Wird eine gewisse Schwelle an Menge, Taktfrequenz oder Zentralisationsgrad unterschritten, droht die zivilisatorische Infrastruktur und Ordnung zusammenzubrechen. Heutige Methoden, die Strukturen in Stand zu halten, sind zu wachstumsorientiert. Um die öffentlichen Kassen zu entlasten und die Steuerbelastung zu senken, forcierte man beispielsweise das Prinzip der Nutzerfinanzierung. Für Infrastrukturleistungen, wie Straßensysteme oder Leitungsnetze, soll möglichst nicht die Gemeinschaft der Steuerzahler, sondern der jeweilige Nutzer selbst zahlen. Bekanntestes Beispiel ist die LKW-Maut auf Deutschlands Autobahnen. Was bundesweit vernünftig sein mag, kann in "strukturschwachen" Räumen problematisch werden, denn bei diesem Prinzip steigt schnell die Pro-Kopf-Belastung je weniger Menschen die betreffende Infrastruktur in Anspruch nehmen. Um das zu verhindern könnte freilich das verfügbare Angebot verkleinert werden, so dass es weniger Kosten verursacht, doch gerade bei materiellen Infrastrukturen ist dies nicht leicht zu bewerkstelligen. Versorgungsnetze, wie Straßen, Schienen und Rohrleitungen, sind meist auf lange Zeithorizonte ausgelegt und nicht besonders anpassungsfähig.

Dies zeigt, dass die bestehende technische Infrastruktur und ökonomische Ordnung keine Lösung für die Probleme der Abwanderung und Alterung parat haben. Ganz im Gegenteil, sie verschärfen das Problem sogar noch. Unser technischer Fortschritt und wirtschaftlicher Wohlstand ist auf Wachstum und Schnelligkeit ausgelegt. Für lang anhaltende Stagnations- oder gar Schrumpfungsprozesse fehlen adäquate Konzepte. Dies zeigt sich bis in die Wortwahl hinein. Wenn ungenutzte Verkehrswege eingeebnet oder leer stehender Wohnraum abgerissen wird, spricht man von "Rückbau". Immer noch wird scheinbar "gebaut" - wenn auch abgebaut. Doch auch Stagnation und Schrumpfung bedürfen Techniken, allerdings nicht nur unter ökonomischen, sondern auch, und gerade, unter politischen, sozialen und ökologischen Gesichtspunkten. Wo Infrastruktur und Ordnung schwach werden, sind viele Menschen besonders anfällig für Manipulation. Gefährliche Versprechungen, wie die des Rechtsextremismus, suggerieren einen Ersatz für den mangelnden Zusammenhalt. Dies kann die Destabilisierung weiter anheizen.

Techniken der "Entschleunigung" der Wachstumsspirale und des "Wiedereinbettens" in die Bedingungen des unmittelbaren Bedarfs stehen heute noch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Die Technik- und Wirtschaftsformen sind vielfach zentralistisch organisiert. Ihre Schaltstellen sind meist auch die Hebel der Macht, die von überordneten Hegemonialkräften nicht aus der Hand gegeben werden. Der Fortschritt folgt dabei den Finanzströmen. Dieser ist bestenfalls nur dort mit dem Bedarf gleichzusetzen, wo ein Mindestmaß an Nachfrage und Grundversorgung gewährleistet ist. Insbesondere Infrastrukturangeboten fehlt die Fähigkeit zur "Skalierbarkeit", d.h. flexible Anpassungen an kleinteilige Bedarfe sind systembedingt erschwert. Das Aufbrechen dieser Blockaden muss ein zentrales Anliegen zukünftiger Technik- und Wirtschaftspolitik sein.

Weder steuerfinanzierte Subventionen noch nutzerbasierte Marktmechanismen sind befriedigende Antworten auf die Fragen der Schrumpfung. Das Humankapital der Heimattreuen und die Ressourcen der Regionen müssen genutzt werden. Dies geht nur über eine partizipative Technik- und Wirtschaftspolitik, die sich an den Bedürfnissen der Bürger orientiert. Der öffentliche Nahverkehr kann z.B. über "Bürgerbusse" aufrechterhalten werden, wie sie in mehreren Regionen bereits erfolgreich eingesetzt werden. Ehrenamtliche Busfahrer "von nebenan" leisten einen Dienst für ihre Nachbarn. Das Angebot kann bedarfsgerecht gestaltet werden, da keine oder nur geringe Gewinne erwirtschaftet werden müssen. Ähnlich kann mit dem privaten Kleinguttransport verfahren werden. Dorfbewohner können zwecks Einkaufsfahrten Fahrgemeinschaften koordinieren, etwa Sammeltouren eines Einkäufers, der die Besorgungen der Nachbarn gleich mit erledigt. Zudem gibt es erste Versuche mit Versorgungsanhängern, an denen die Nutzer einzelne Transportfächer mieten können. Mit Hilfe der Fächer können Pfadgüter zurückgegeben und Bestellungen abgeholt werden. Im stationären Bereich können "Nachbarschaftsläden" entstehen, indem Einwohner selbst einen Gemeinschaftsladen eröffnen. Die dortigen Mengen und Preise für Lebensmittel unterliegen nicht den Maßstäben der Großketten. Was nicht beliebig verkleinert werden kann, oder nicht in Eigenregie zu leisten ist, kann transportabel gemacht werden. So sind etwa "rollende Einrichtungen", wie Bank- und Bücherbusse, in der Lage, zu bestimmten Zeiten die Funktion dauerhafter Strukturen zu ersetzten. Ebenso sind zahlreiche Kombi-Funktionen denkbar, etwa wenn Bürgerbusfahrer die Lokalzeitung zum Selbstkostenpreis verkaufen oder die Post mitnehmen.

Lokalwährung, auch "Regiogeld" genannt, kann dazu beitragen, dass die selbst erarbeiteten Werte der heimischen Kleinwirtschaft zu Gute kommen und nicht wie bisher in andere Wirtschaftsräume "wegfließen". Denn Regiogeld wird nur von Bewohnern eines begrenzten Raumes untereinander als Zahlungsmittel akzeptiert, wodurch lokale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden.

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Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie im Gegensatz zum Zentralstaat und zur Großwirtschaft auf kleinteilige, dezentrale Techniken setzen. So kann etwa ein vernetztes Rohrleitungssystem zur Frisch- und Abwasserversorgung durch einzelne Brunnen und Sickergruben ergänzt werden. Ebenso kann die Stromversorgung von Großkraftwerke durch private Windräder und Solaranlagen entlastet werden. Dies sind "Graswurzel-Initiativen", die sich nicht an der quantitativen Masse der Menschen orientieren, sondern an ihrer individuellen Initiative. Vor diesem Hintergrund sind bundesweite Rahmenbedingungen zu prüfen. Es ist zu fragen, ob das Gebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse der Realität einer immer heterogeneren Alter- und Einkommensstruktur entspricht. So könnte etwa die Genehmigungspflicht öffentlicher Verkehre oder die allgemeine Schulpflicht in bestimmten Gebieten gelockert werden. Experimentierräume und Entwicklungsnischen können den Hegemonialanspruch der bestehenden Rechts- und Wirtschaftsordnung brechen, um Alternativen der Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern. Als gegenteiliges Zeichen verfehlter Strukturpolitik gelten mittlerweile die "beleuchteten Schafsweiden" - geplante Gewerbegebiete ohne eine Niederlassung. Dies kann durch einen Wandel der Förderphilosophie vermieden werden, der von der Objekt- zur Subjektförderung verläuft. So könnten etwa Bewohner von Landstrichen, in denen sich mangels Nachfrage keine objektbezogenen Wirtschaftssubventionen rentieren, "Mobilitätsgutscheine" bekommen, deren Wert sie dann eigenverantwortlich für individuelle Taxifahrten, Lieferdienste oder auch Bürgerinitiativen einlösen können. Der vormals passive Kunde oder Subventionsempfänger wird zum Aktivisten in eigener Sache. Zwar kann eingewendet werden, die bestehende Perspektivlosigkeit und Demotivierung verhindere derartige Ansätze. Doch die Selbstbestätigung der aus Eigenarbeit erschaffenen Umgebung war seit jeher eine nicht zu unterschätzende Schaffenskraft des Menschen. Wir haben es in der Hand, ob die "Schrumpfungsräume" zu schlichten Verkehrsachsen zwischen Wachstumskernen herabsinken, oder die verbleibenden Potentiale politisch genutzt werden.

Der Autor ist Diplomand der "Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung" an der TU Berlin und studentischer Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sein verkehrsplanerischer Beitrag zum obigen Thema ist im Universitätsverlag der TU Berlin erschienen.

Quelle

Vollständiger Text
Scherf, Christian: Wirtschaftsverkehr unter den Bedingungen der Schrumpfung, in: Arndt, Wulf-Holger (Hrsg.): Wirtschaftsverkehr in der Verkehrsplanung - Verkehrsplanungsseminar 2005/2006, Schriftenreihe A des Instituts für Land- und Seeverkehr, Bd. 44, Technische Universität Berlin, 2007, S. 95-108. ISBN 978-3-7983-2060-4
Kontakt: scherfchris@gmail.com

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